Der Fall
Die erwachsene Tochter verlangte vom Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 10.000 Euro, nachdem ihr 81-jähriger Vater bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Zwischen Vater und Tochter bestand eine enge emotionale Bindung. Er hatte ihr alle Vollmachten erteilt und sie war die erste Ansprechpartnerin, wenn es „etwas zu regeln“ gab. Zumindest bis zu ihrer Anhörung in der Berufungsinstanz, etwa zwei Jahre nach dem Ereignis im Dezember 2018, litt sie noch sehr unter dem Verlust. Vorprozessual zahlte ihr die Versicherung ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 3.000 Euro.
OLG: Kein Stufenverhältnis zwischen Schmerzensgeld und Hinterbliebenengeld
Während das LG Flensburg in erster Instanz nur weitere 3.500 Euro zusprach, gab das OLG Schleswig mit Urteil vom 23.2.2021 - 7 U 149/20 der Klage vollumfänglich statt und sprach weitere 7.000 Euro zu. Der Betrag von 10.000 Euro stellt nach den neu eingeführten Regelungen (§ 844 Abs. 3 BGB, § 10 Abs. 3 StVG) keine Obergrenze dar, sondern dient als Orientierungshilfe für die individuelle Bemessung. Der Schockschaden für seelisches Leid und das Hinterbliebenengeld für seelisches Leid stehen in keinem Stufenverhältnis zueinander. Es handelt sich um zwei verschiedene Ansprüche. Die Entschädigung darf daher nicht niedriger als das Schmerzensgeld festgesetzt werden.
Entscheidung des BGH: Hinterbliebenengeld in der Regel niedriger als Schmerzensgeld
Die Revision des Versicherers vor dem Bundesgerichtshof war erfolgreich. Der VI. Zivilsenat hat die Sache zur weiteren Aufklärung an das OLG zurückverwiesen. Die Erwägungen des OLG zum Verhältnis von Hinterbliebenengeld und Schmerzensgeld bei Schockschäden seien unzutreffend.
Das Hinterbliebenengeld erfüllt zwar dieselbe Doppelfunktion wie das Schmerzensgeld des § 253 Abs. 2 BGB: Ausgleich und Genugtuung. Der Anspruch auf Hinterbliebenengeld soll jedoch dem Hinterbliebenen eine angemessene Entschädigung in Geld für immaterielle Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle eines medizinisch fassbaren Gesundheitsschadens gewähren. Der dem Hinterbliebenen im Einzelfall zugesprochene Betrag sollte daher in der Regel unter dem Betrag liegen, der ihm zustünde, wenn sein erlittenes seelisches Leid die Qualität eines Gesundheitsschadens hätte, keinesfalls aber darüber, wie es das OLG Schleswig als Vorinstanz und das OLG Celle für möglich gehalten hatten.
Die Frage, welcher Betrag angemessen ist, kann nur im Rahmen der deutschen Rechtsordnung beantwortet werden. Höhere Entschädigungsbeträge in anderen europäischen Ländern sind insoweit nicht relevant. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die falsche Berechnungsgrundlage auf die Höhe der zugesprochenen Entschädigung ausgewirkt hat.
Der BGH bestätigt zwar den Betrag von 10.000 Euro als Orientierungshilfe, betont aber gleichzeitig, dass der konkrete Einzelfall und die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu würdigen sind. Er betont auch, dass das Hinterbliebenengeld in der Regel niedriger sein sollte als das Schmerzensgeld bei Schockschäden. Dabei ist das Hinterbliebenengeld keine dritte Schiene des Schadensersatzes neben dem Ersatz von Vermögens- und Nichtvermögensschäden, sondern eine besondere Form des immateriellen Schadensersatzes, insoweit eine Ergänzung des § 253 Abs. 2 BGB.
Zu der Frage, ob der Anspruch auf Hinterbliebenengeld neben einem eigenen Schmerzensgeldanspruch wegen eines Schockschadens geltend gemacht werden kann, äußert sich der Senat nicht. Der Hinweis auf die Einzelfallbetrachtung macht aber deutlich, dass der immaterielle Schaden im Ergebnis einheitlich zu bewerten ist.
Fazit
Ist ein Mensch getötet worden und besteht ein persönliches Näheverhältnis im Sinne des § 844 Abs. 3 BGB, so ist dem Hinterbliebenen stets und ohne weiteres eine Geldentschädigung für den immateriellen Schaden zuzusprechen. Das Hinterbliebenengeld ist dabei keine dritte Art des Schadensersatzes neben dem Ausgleich von Vermögens- und Nichtvermögensschäden, sondern eine besondere Form des immateriellen Schadensersatzes, insoweit eine Ergänzung des § 253 Abs. 2 BGB. Für die Bemessung der Höhe ist vor allem die Intensität des erlittenen seelischen Leids maßgeblich: erreicht es die Schwelle einer Gesundheitsverletzung, wechselt die Rechtsgrundlage von § 844 Abs. 3 BGB zu § 823 Abs. 1 i.V.m. § 253 Abs. 2 BGB und die Höhe des Schmerzensgeldes steigt weiter an. Auch der Grad des Verschuldens des Schädigers kann ggf. zu einer Anpassung des Schmerzensgeldes führen.