Off-Label-Use ist nicht per se unzulässig

Eine zweite Kortisoninjektion muss nicht zwingend als behandlungsfehlerhaft gewertet werden, auch wenn die zeitliche Soll-Vorgabe des Medikamentenherstellers nicht eingehalten wird. Dabei muss der Arzt eine Abwägung zwischen dem erhöhten Infektionsrisiko und der Beschwerdelinderung vornehmen. Vor einer solchen Behandlung muss der Patient auf die gesteigerten Risiken hingewiesen werden. Bei mangelnder Aufklärung trägt der Patient die Beweislast dafür, dass die Kniegelenksinfektion durch die konkrete Injektion verursacht worden ist.

Der Fall

Ein Orthopäde hatte seinem Patienten wegen Kniebeschwerden zehn intraartikuläre Injektionen mit Hyaloronsäure, Carbostesin und Triamcinolon 40 mg verabreicht.

Zuvor hatte er mit dem Patienten die verschiedene Therapiemöglichkeiten erörtert und ihn auf die Möglichkeit einer Knieteilgelenksendoprothese hingewiesen. Der Patient stand zu diesem Zeitpunkt einem operativen Eingriff jedoch zurückhaltend gegenüber.

Bei dem Kläger kam es in der Folgezeit zu einem massiven Kniegelenkempyems und einen Befall mit dem Keim Propionibacterium acnes. Eine stationäre mit Arthroskopie, Spülung und Synovektomie und im weiteren Verlauf eine Rearthroskopie mit entsprechender Spülung und Debridement wurden erforderlich. Letztendlich wurde komplikativ eine Totalknieprothese implantiert.

Der Patient warf seinem Arzt Aufklärungs- und Behandlungsfehler vor. Die Kortisoninjektionen seien aufgrund seinerzeit lediglich moderater Kniebeschwerden kontraindiziert gewesen. Erst recht sei angesichts der Herstellervorgaben einer Wartezeit von drei bis vier Wochen die enge zeitliche Abfolge von neun Tagen kontraindiziert gewesen. Im Übrigen habe der Arzt die hygienischen Anforderungen bei den Injektionen nicht eingehalten. Durch die beiden Injektionen sei es zu einer deutlichen Verschlechterung des Zustands des Kniegelenks mit einer Knorpelzerstörung und der Ausbildung eines Kniegelenkempyems gekommen. Auch hätten die Injektionen zu einem Dauerschaden in Form von Bewegungseinschränkungen und letztlich zum Einsatz der Endoprothese geführt. Der Arzt habe auch nicht auf das hohe Infektionsrisiko hingewiesen und vor der zweiten Injektion nicht darüber aufgeklärt, dass es sich um einen off-label-use mit besonderen Risiken handele. Auch eine Aufklärung über die hohe Misserfolgsquote sei nicht erfolgt.

Die erste Instanz

Das Landgericht hat die Klage gestützt auf ein orthopädisches sowie mikrobiologisches Gutachten abgewiesen. Die Frage nach Behandlungsfehlern und einer ordnungsgemäßen Aufklärung könne letztlich dahinstehen. Der Kläger habe nicht bewiesen, dass die vorgetragenen Gesundheitsschäden kausal auf die Behandlung des Beklagten zurückzuführen seien. Die Injektion des Kortisonpräparats sei nicht kontraindiziert gewesen. Wahl und Dosierung des Medikaments seien korrekt erfolgt. Allerdings stelle die Injektion der Kortisonpräparate in der engen zeitlichen Abfolge von neun Tagen einen off-label-use dar und sei möglicherweise behandlungsfehlerhaft gewesen. Eine Einschätzung, ob die Gelenksinfektion tatsächlich auf die Injektionen zurückzuführen sei, sei aber nach Angabe des orthopädischen Sachverständigen kaum möglich. Der Keim könne auch durch die vorangegangene Injektionstherapie eines anderen Arztes eingebracht worden sein. Auch nach Einschätzung des mikrobiologischen Sachverständigen könne die alio loco durchgeführte Injektionstherapie nicht mit hinreichender Sicherheit als Infektionsursache ausgeschlossen werden. Es sei auch nicht gesichert, dass der nachgewiesene Hautkeim Propionibacterium Acnes die spätere Infektion verursacht habe.

Die zweite Instanz

Das Oberlandesgericht wies die Berufung zurück.

Aus den Gründen (Auszug):

Ausweislich der Herstellerinformation des Medikaments „soll“ eine erneute Injektion frühestens nach drei bis vier Wochen erfolgen. Die Injektion der beiden streitgegenständlichen Kortisonpräparate in der engen zeitlichen Abfolge von neun Tagen stellt danach nach Bewertung des Sachverständigen insoweit einen off-labe-use dar, als sich der Beklagte über die „Soll-Vorgabe“ der Herstellerinformation hinweggesetzt hat. Die zweite Injektion sei in der konkreten Situation jedoch nicht kontraindiziert gewesen ist.

Der Einsatz von Medikamenten im off-label-use ist nicht per se unzulässig.

„Aufgrund seiner Therapiefreiheit hat der Arzt regelmäßig die freie Wahl hinsichtlich der konkret anzuwendenden Methode. Dies gilt auch für die Entscheidung, welches Medikament er für welche Indikation einsetzt und umfasst grundsätzlich auch den Einsatz eines Medikaments jenseits der vom Hersteller vorgegebenen Indikationen, den sog. Off-label-use. Dieser stellt nicht per se einen Behandlungsfehler dar. Der arzneimittelrechtlichen Zulassung eines Medikaments kommt primär Bedeutung für die Verkehrsfähigkeit zu; es besteht dann eine Vermutung für die Verordnungsfähigkeit in der konkreten Therapie Ein off-label-use ist zulässig, wenn er unter sorgfältiger Abwägung der Vor- und Nachteile des für den beabsichtigten Gebrauch nicht zugelassenen Medikaments vertretbar ist und medizinisch-sachlich begründet erscheint. Entsprechend kann der off-label-use eines Medikaments nur dann als fehlerhaft angesehen werden, wenn die verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile des off-labe eingesetzten Medikaments sowie dessen abzusehende oder zu vermutende Nachteile einerseits mit der ggfs. möglichen Behandlung mit einem zugelassenen Medikament andererseits i.S. einer individuellen Kosten-Nutzen-Analyse die Anwendung der off-label verordneten Medikation nicht rechtfertigt.

Der Sachverständige hat die zeitliche Karenzzeit zwischen den Injektionen im Streitfall nicht generell beanstandet. Er hat dargelegt, dass die Gebrauchsinformation des Herstellers insoweit kein striktes Verbot einer Injektion vor Ablauf von drei bis vier Wochen enthält. In jedem Falle wird aber durch die kurze Karenzzeit die Schwelle zu einem Infekt abgesenkt und damit das Risiko einer Infektion für den Patienten erhöht. Gleichwohl bestand keine generelle Kontraindikation einer erneuten Injektion. Die antiflammatorische Wirkung von Kortisoninjektionen in das Kniegelenk nimmt mit zunehmender Anzahl von Injektionen ab. Zudem hilft das Medikament in aller Regel sehr gut, so dass seiner Bewertung nach auch bereits nach neun Tagen ein erneuter Versuch zur Beschwerdelinderung unternommen werden kann.

Es findet danach eine Abwägung zwischen dem bei kurzfristiger Wiederholung der Injektion erhöhten Infektrisiko auf der einen Seite und der Beschwerdelinderung bei einem konservativ weitgehend austherapierten Patienten auf der anderen Seite statt. Dabei muss in die Abwägung auch mit einbezogen werden, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt die empfohlene prothetische Operation abgelehnt hat und die zuvor einem anderen Arzt durchgeführte Injektionstherapie offensichtlich nicht die erhoffte Linderung erbracht hatte. Der Sachverständige hat im Hinblick auf die Herstellervorgabe ausgeführt, dass es im klinischen Alltag immer wieder Situation gibt, in denen sich der Arzt über gewisse Dinge hinwegsetzt, weil dies in der konkreten Situation medizinisch sinnvoll ist. Dabei wird gerade Kortison im Rahmen der ambulanten Versorgung der Patienten in Arztpraxen sehr häufig nach kürzerer Frist verabreicht.

Der Sachverständige hat es ausdrücklich als legitim angesehen, in der klinischen Situation des Klägers angesichts des dokumentierten Beschwerdebildes trotz der Risikoerhöhung über eine zweite Injektion nachzudenken. Bei dem Kläger hatte sich der typische Verlauf einer aktivierten Arthrose eingestellt. Es bestand die Aussicht, durch die Injektionen einen Zustand mehrmonatiger Ruhe bis zur neuerlichen Inflammation zu erreichen und hierdurch eine prothetische Operation weiter hinauszuschieben. Die bei der Erstuntersuchung dokumentierten Symptome, Erguss, Bakerzyste und Unterschenkelstau sind Ausdruck der akuten Arthrose gewesen. Vor dem Hintergrund des Ergusses gab es nach Angabe des Sachverständigen auch durchaus medizinische Argumente, sich über die Packungsbeilage hinwegzusetzen und bereits nach 9 Tagen eine erneute Kortisoninjektion zu verabreichen. Nachdem der Sachverständige aus medizinsicher Sicht nachzuvollziehen vermochte, warum der Beklagte diesen Weg gegangen ist, liegt danach keine Abweichung vom medizinischen Standard vor.

Der Beklagte hätte mit dem Kläger vor der zweiten Kortisoninjektion besprechen müssen, dass er von der Herstellervorgabe abweicht und dass dies mit einer Risikoerhöhung verbunden ist. Vor einer solchen Behandlung muss der Patient darauf hingewiesen werden, dass es sich um einen von der Standardbehandlung abweichenden off label use des Medikaments mit möglicherweise gesteigerten Risiken handelt. Die Gründe, warum von der Gebrauchsinformation des Herstellers abgewichen wird, sind mit dem Patienten zu besprechen. Sodann ist der Patient über das erhöhte Infektionsrisiko aufzuklären. Rät der Arzt - wie im Streitfall - zu einer kürzeren zeitlichen Abfolge, muss er mit dem Patienten darüber reden, dass in diesem Fall ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht.

Eine solche Aufklärung ist vorliegend unstreitig nicht erfolgt. Der Beklagte hat im Rahmen seiner persönlichen Anhörung lediglich angegeben, er habe um die zwischenzeitlichen Beschwerden des Klägers bis zum angedachten Operationstermin im Winter zu lindern, noch einmal eine Injektion durchgeführt, die der Kläger schon von einem anderen Arzt gekannt habe.

Danach liegt ein Verstoß des Beklagten gegen die Pflicht zur Eingriffs- und Risikoaufklärung vor. Auch wenn man als behandelnder Arzt nach Angabe des Sachverständigen mit einem Zahnmediziner oder Arzt anders spricht als mit einem normalen Patienten und dem Kläger das Risiko wiederholter Kortisoninjektionen zweifellos bekannt gewesen ist, war hier ein „zumindest leichter“ Hinweis auf die Abweichung von der Packungsbeilage verbunden mit einem Rat zur Wiedervorstellung bei systematischen Infektzeichen unumgänglich.

Der Kläger vermochte jedoch den ihm obliegenden Beweis nicht zu erbringen, dass die Kniegelenkinfektion und die damit verbundenen Gesundheitsbeeinträchtigungen durch die zweite Kortisoninjektion vom 23.05.2012 verursacht worden ist.

Steht somit weder der die bakterielle Injektion verursachende Keim noch ein Ursachenzusammenhang zwischen den Injektionen des Beklagten und der späteren Infektion sicher fest, ist der Vollbeweis nach § 286 ZPO nicht geführt.

Praxistipp

Es kommt nicht selten vor, dass bestimmte Medikamente oder Kombinationen von Medikamenten sich in der Praxis bewährt haben, obwohl der Hersteller deren Einsatz – aus Gründen der Zulassung – nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen „erlaubt“. Das Gericht hat es hier der Einschätzung des Arztes überlassen, ein Medikament auch „off-label“ einzusetzen, wenn er die Vor- und Nachteile sorgfältig abwägt und der Einsatz ihm medizinisch-sachlich begründet erscheint. Voraussetzung dafür, dass der Arzt nicht haftet, wenn es trotz oder wegen des Einsatzes dieses Medikaments zu Schäden kommt, ist, dass er zum einen entsprechend dokumentiert, dass er die Vor- und Nachteile abgewogen hat und zum anderen den Patienten darüber aufklärt, dass es sich um einen off label use handelt, warum er von den Gebrauchsinformation des Herstellers abweichen will und mit welchen Risiken das für den Patienten verbunden ist. Auch insoweit empfiehlt sich zumindest eine Dokumentation des Aufklärungsgesprächs, besser noch eine Unterschrift des Patienten auf einer entsprechenden schriftlichen Erklärung, deren Inhalt ggf. vorab juristisch überprüft werden sollte.

Fundstelle: OLG Hamm Urt. v. 31.1.2020 – 26 U 47/19, BeckRS 2020, 1805

Datum

Rechtsgebiet Arzthaftungsrecht

Rindermarkt 3 und 4
80331 München

+49 89 18 94 43 0
info(at)tacke-koller.de