Umfang der Verkehrssicherungspflicht im Allgemeinen am Beispiel der Pflichten eines Grundstückseigentümers gegenüber Kindern

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die maßgeblichen Voraussetzungen für eine Haftung wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten in einer aktuellen Entscheidung zusammengefasst und seine bisherige Rechtsprechung bestätigt.

Der Entscheidung zugrunde lag die Verletzung eines Kleinkindes durch den Tritt eines Pferdes. Das Pferd befand sich in einem offenen Hänger, der auf dem Grundstück des Beklagten, Veranstalter eines Reitturniers, abgestellt war. Das dreijährige Kind war unbemerkt in den Hänger geklettert und dort von dem Pferd verletzt worden.

Die Pferdehalterin und deren Haftpflichtversicherung haben den Beklagten im Regresswege klageweise in Anspruch genommen.

 

Entscheidung der Vorinstanzen:

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen. Das OLG hat auf die Berufungen der Klägerinnen festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin zu 2) 1/3 sämtlicher Zahlungen zu erstatten, die diese aufgrund der Verletzungen des Kindes geleistet hat und die Klägerin zu 1) im Umfang von 1/3 freizustellen. Im Übrigen wurden die Berufungen der Klägerinnen zurückgewiesen.

Mit den zugelassenen Revisionen wendet sich der Beklagte gegen seine Verurteilung, die Klägerinnen gegen die teilweise Zurückweisung der Berufungen.

 

Verkehrssicherungspflicht im Allgemeinen

Der BGH führt in seiner Entscheidung zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht folgendes aus: Derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Verkehrssicherungspflichtig ist auch derjenige, der in seinem Verantwortungsbereich eine eingetretene Gefahrenlage andauern lässt.

Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die nahe liegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren und die den Umständen nach zuzumuten sind. Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernt liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem Schaden, so muss der Geschädigte – so hart dies im Einzelfall sein mag – den Schaden selbst tragen.

 

Verkehrssicherungspflicht im Besonderen

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze musste der Beklagte keine Vorkehrungen treffen, um zu verhindern, dass ein Kleinkind in den Pferdeanhänger der Klägerin zu 1) gelangt.

Zwar muss jeder Grundstückseigentümer wirksame Schutzmaßnahmen ergreifen, um Kinder vor den Folgen ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit zu schützen, wenn ihm bekannt ist oder sein muss, dass sie sein Grundstück zum Spielen benutzen, und die Gefahr besteht, dass sie sich an den dort befindlichen gefährlichen Gegenständen zu schaffen machen und dabei Schaden erleiden können. An die Pflicht zur Gefahrenabwehr sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je größer der Anreiz ist, den die vom Sicherungspflichtigen geschaffene oder unterhaltene Gefahrenquelle auf Kinder ausübt, und je weniger diese selbst in der Lage sind, die für sie bestehenden Gefahren zu erkennen.

Allerdings darf sich der Verkehrssicherungspflichtige in gewissem Umfang darauf verlassen, dass die für ein Kind Verantwortlichen ein Mindestmaß an sorgfältiger Beaufsichtigung wahrnehmen. Das Vertrauen, das ein Grundstückseigentümer in die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht durch die dafür Verantwortlichen setzen kann, wirkt zurück auf seine Sicherungspflichten. Denn Art und Umfang der Verkehrssicherungspflichten bestimmen sich nicht nur nach der Intensität der Gefahr, sondern auch nach den Sicherungserwartungen des Verkehrs. Werden Gefahren für Kinder durch die gebotene Beaufsichtigung von dritter Seite gewissermaßen neutralisiert, so reduzieren sich entsprechend auch die Sicherungserwartungen an den Grundstückseigentümer, der auf eine solche Beaufsichtigung vertrauen darf.

Der Umfang der gebotenen Aufsicht über Minderjährige bestimmt sich nach deren Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen danach richtet, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müssen, um Schädigungen zu verhindern. Das Maß der geschuldeten Aufsicht erhöht sich mit der Gefahrträchtigkeit der konkreten Situation. Spielen Kinder in der Nähe von Straßen oder in der Nähe gefährlicher Gegenstände, ist mehr Aufsicht angebracht als innerhalb eines abgegrenzten, risikoarmen Bereichs. Kleinkinder bedürfen ständiger Aufsicht, damit sie sich nicht Gefahren in ihrer Umgebung aussetzen, die sie aufgrund ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit noch nicht erkennen und beherrschen können. Diese Gefahren sind für sie allgegenwärtig; sie können schon aus Gegebenheiten erwachsen, die für jeden anderen gänzlich ungefährlich sind. Daher gesteht die Rechtsprechung Kindern erst ab einem Alter von vier Jahren einen Freiraum zu, wobei allerdings eine regelmäßige Kontrolle in kurzen Zeitabständen für erforderlich gehalten wird.

Wird eine Beaufsichtigung von Kleinkindern nicht lückenlos durchgeführt, dann handelt es sich grundsätzlich um ein Aufsichtsversagen der Eltern oder anderer mit der Beaufsichtigung betrauter Personen. Die bloße Möglichkeit eines solchen Versagens legt dem verkehrssicherungspflichtigen Grundstückseigentümer nicht schon die Pflicht auf, den Gefahren auch aus derartigen Aufsichtsversäumnissen zu begegnen. Dazu besteht erst Anlass, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung bestehen.

Hier durfte der Beklagte sich darauf verlassen, dass das Kind so beaufsichtigt wird, dass es nicht in einen Pferdeanhänger von Turnierteilnehmern gelangt. Es waren keine Umstände ersichtlich, nach denen dem Beklagten bekannt gewesen wäre, dass Kinder sich ohne gehörige Aufsicht in den Bereich der abgestellten Pferdetransporter begeben. Der Beklagte hätte auch nicht durch eine Aufsicht sicherstellen müssen, dass Kinder sich den Pferden nicht unbeaufsichtigt nähern. Die anderslautende Auffassung des Berufungsgerichts beruhe auf Rechtsfehlern.

Der Beklagte durfte davon ausgehen, dass (auch ältere) Kinder, die noch kein ausreichendes Gefahren- und Verantwortungsbewusstsein haben, sich nicht unbefugt und ohne gehörige Aufsicht in den Bereich der abgestellten Pferdetransporter sowie -anhänger begeben und diese sogar betreten. Denn die damit verbundenen Gefahren waren nach den Feststellungen nicht nur für den Beklagten, sondern auch für die Besucher des Reitturniers offensichtlich. Daher hätten Aufsichtspersonen Kindern ohne ausreichendes Gefahren- und Verantwortungsbewusstsein keinen Freiraum gewähren dürfen, der es ihnen ermöglicht hätte, in einen Pferdetransporter oder -anhänger von Turnierteilnehmern zu gelangen

Der Hinweis des Berufungsgerichts, gerade bei einem älteren Kind könne es auch vorkommen, dass es sich plötzlich der Aufsicht entzieht, sei zwar zutreffend. Allein daraus folge jedoch noch nicht, dass ein Verkehrssicherungspflichtiger kein Vertrauen in die gebotene Beaufsichtigung haben darf.

 

Fazit:

Der u.a. für Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche aus unerlaubten Handlungen sachlich zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die maßgeblichen Voraussetzungen für eine Haftung wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten in der Entscheidung anschaulich zusammengefasst und seine bisherige Rechtsprechung bestätigt. Zudem führt der BGH ausdrücklich aus, dass der Umfang der Verkehrssicherungspflicht im Maß der gebotenen Aufsicht über Kinder eingeschränkt ist. Denn durch die gebotene Aufsicht werden die Gefahren gewissermaßen „neutralisiert“, was auch die Sicherungserwartungen an den Verkehrssicherungspflichtigen, der auf eine Beaufsichtigung vertrauen darf, reduziert.

 

Fundstelle:  BGH, Urt. v. 19.01.2021 – VI ZR 194/18 = NJW 2021, 1090

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